Laut Verordnung über die Berufsausbildung im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik §15, Abs. 2 ist es möglich, als Abschlussprojekt zum Fachinformatiker Anwendungsentwicklung anstatt eines „Programmierprojekts“ auch ein reines Pflichtenheft – quasi als Vorlage für die konkrete Programmierung – zu erstellen:
Hierfür kommt insbesondere eine der nachfolgenden Aufgaben in Betracht:
1. in der Fachrichtung Anwendungsentwicklung in insgesamt höchstens 70 Stunden für die Projektarbeit einschließlich Dokumentation:
a) Erstellen oder Anpassen eines Softwareproduktes, einschließlich Planung, Kalkulation, Realisation und Testen,
b) Entwickeln eines Pflichtenheftes, einschließlich Analyse kundenspezifischer Anforderungen, Schnittstellenbetrachtung und Planung der Einführung;
Aber ist das auch sinnvoll?
Softwareentwickler und Programmierer
Der Ausbildungsberuf heißt Anwendungsentwickler und nicht Programmierer. Aus gutem Grund. Die Azubis sollen nicht nur lernen zu programmieren, sondern auch komplexe Anwendungen zu planen und methodisch zu entwickeln. Wir bilden keine „Codeaffen“ aus, sondern Softwareentwickler/-innen, die Anforderungen aufnehmen und bewerten, Architekturen entwerfen, Programmiersprachen auswählen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchführen und letztlich natürlich auch ein wenig programmieren können.
Die Erstellung eines komplexen Pflichtenhefts für eine umfangreiche Software passt also sehr gut zum Berufsbild und ist in keinster Weise „minderwertig“ im Vergleich zur Programmierung einer Anwendung als Abschlussprojekt.
In der Praxis
Ich bin nicht repräsentativ für alle Prüfer in Deutschland, aber ich habe in meinen Jahren als Prüfer bislang kein einziges reines „Theorieprojekt“ gesehen. Ich würde also einfach mal vermuten, dass diese Projekte nicht allzu oft vorkommen. Das heißt nicht, dass die Pflichtenheft-Projekte schlechter sind. Vermutlich möchten die meisten angehenden Anwendungsentwickler halt lieber programmieren als Anforderungen zu dokumentieren und Diagramme zu zeichnen. Und das ist auch völlig ok. Wenn sich für dein Projekt aber eine Implementierung nicht anbietet oder du lieber die Anforderungen definierst, anstatt sie selbst umzusetzen, dann ist ein Pflichtenheft eine gute Wahl für dich. Du solltest allerdings auf ein paar Punkte achten.
Worauf du achten solltest
Zur Themenfindung für das Abschlussprojekt habe ich schon eine ganze Podcast-Episode aufgenommen. Ein Punkt von vielen ist, dass das Projekt sich gut für eine methodische Entwicklung eignen sollte. Du solltest also die üblichen Verfahren und Techniken zur Softwareentwicklung anwenden und vor allem auch dokumentieren können. Denn darauf basiert deine Note für die Projektdokumentation.
Das ist bei einem reinen Theorieprojekt meiner Meinung nach noch viel wichtiger. Da zentrale Artefakte deiner Projektdokumentation „fehlen“ werden, müssen die anderen umso aussagekräftiger und „besser“ sein. Hier ist eine kleine Liste einiger Inhalte, die bei einem Pflichtenheft nicht in der Dokumentation enthalten sein werden, da es halt kein fertiges Produkt gibt:
- Quelltext
- Screenshots der Oberflächen
- Benutzerdokumentation
- Entwicklerdokumentation
- Testprotokolle
- Abnahmeprotokolle
Diese „fehlenden“ Inhalte gilt es nun zu kompensieren, um die verfügbare Seitenzahl auszunutzen und das volle Spektrum deiner Fähigkeiten zu zeigen. Es wird also eine intensive Analyse- und Entwurfsphase geben, die du mit allen geeigneten Mitteln der Softwareentwicklung dokumentieren musst. Insbesondere fallen mir dazu folgende Artefakte ein:
- Use-Cases
- Prozessabläufe (Ist und Soll), z.B. mit EPK, Aktivitätsdiagramm
- geplante Algorithmen, z.B. mit Sequenzdiagramm, Pseudocode oder PAP
- Oberflächenentwürfe (Mockups)
- Qualitätskriterien
- Testfallkatalog
- Anforderungen, z.B. als User Stories
- Lasten- und natürlich das Pflichtenheft selbst
- Architekturentwurf, z.B. als Komponenten- oder Klassendiagramm
- Feinentwurf, z.B. als Klassen- oder Zustandsdiagramm
- Datenmodellierung mit ERM und/oder Tabellenmodell
- Planung des Deployments, z.B. mit Verteilungsdiagramm
- Planung der Benutzerschulung und der Dokumentation
- Wirtschaftlichkeitsbetrachtung mit Amortisationsrechnung
Mehr theoretische Tiefe
Vielen „normalen“ Projektdokumentationen merkt man den wenigen verfügbaren Platz an. Artefakte wie Lasten- und Pflichtenheft werden nur in Auszügen angehängt oder ganz weggelassen, weil insgesamt so viel zu zeigen ist. Allein Screenshots nehmen z.B. mindestens eine ganze Seite ein (wenn man sie lesbar darstellen will). Bei der Erstellung eines Pflichtenhefts fallen einige dieser zeitintensiven Aufgaben weg. Die meisten Projektarbeiten, die ich gesehen habe, bestehen z.B. zu über 50% aus der Implementierungsphase. Diese Phase „produziert“ aber letztlich nur wenige dokumentierbare Artefakte im Vergleich zu den restlichen Projektphasen, z.B. Quelltextauszüge und Screenshots der Anwendung.
Durch den Fokus auf den Entwurf der Anwendung bei einem Nicht-Programmierprojekt kann den einzelnen Artefakten viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden und sie erhalten einen höheren Stellenwert in der Projektdokumentation. Bei Programmierprojekten wird häufig „noch schnell“ ein Diagramm gemalt, weil das ja wichtig ist. Ich vermute aber, dass viele Projekte einfach runterprogrammiert und nicht methodisch entwickelt werden. Dementsprechend passen nachher die Diagramme auch nicht zur Implementierung oder sie wirken einfach fehl am Platze. Das kann bei einem Pflichtenheft-Projekt nicht passieren. Hier liegt der Fokus des gesamten Projekts genau auf der Erstellung dieser Artefakte.
Dieses Umstands solltest du dir bei der Wahl für ein „Theorieprojekt“ bewusst sein. Du wirst intensiver und einfach auch länger mit der Modellierung verbringen und Wert auf korrekte und passende Artefakte legen müssen.
Fazit
Ein gutes Pflichtenheft schreibt sich nicht von selbst und erfordert viele zentrale Kenntnisse eines Anwendungsentwicklers, die auch bei einem „richtigen“ Projekt mit lauffähiger Software benötigt werden. Durch die deutlich längere Entwurfsphase kannst du dich aber viel intensiver mit ihnen auseinandersetzen. Ein Pflichtenheft als Abschlussprojekt ist also absolut sinnvoll und mehr als nur ausreichend. Einige wenige Artefakte wie Quellcode und Screenshots können logischerweise nicht in der Projektdokumentation enthalten sein, aber viele andere Inhalte sind genauso gut – oder aufgrund der längeren Entwurfsphase sogar noch besser – unterzubringen.
Hast du als Abschlussprojekt ein „richtiges“ Projekt gemacht oder „nur“ ein Pflichtenheft erstellt? Kennst du Projektarbeiten, die ausschließlich die Theorie behandeln? Was ist deine Meinung dazu?
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Hallo,
ich hätte zu diesem Thema noch eine Frage. Wenn ich ein Pflichtenheft als Abschlussprojekt abgeben möchte, muss ich dann im Projektantrag auch die Zeit nur für die Erstellung des Pflichtenheftes extra angeben? Bei „normalen“ Projekten ist es ja so, dass die Zeit für die Erstellung der Projektdokumentation extra im Projektantrag angeben werden muss (ca. 10% der Projektgesamtdauer). Da die Erstellung eines Pflichtenheftes hier ja quasi das Projekt an sich ist, bin ich mir da nicht ganz sicher, ob die Zeit noch zusätzlich angeben werden muss? Vielen Dank für die Antwort.
Patrick
Ob die Zeit für die Projektdoku zur Projektzeit zählt, ist keineswegs klar geregelt! Siehe Ist die Projektdokumentation Teil der Bearbeitungszeit des IHK-Abschlussprojekts?
Aber davon abgesehen: Du musst natürlich die Ergebnisse deiner Analyse- und Entwurfsphase in das physische Pflichtenheft gießen, da du ja nichts programmierst. Also musst du auch entsprechend (viel) Zeit dafür vorsehen. Anstatt 3h für ein „Standard-Pflichtenheft“ kannst du also z.B. 20h einplanen, da du ja ein umfangreicheres Dokument erstellst.
Ist es ab 01.08.2020 überghaupt noch möglich ein Pflichtenheft für die Prüfung zu erstellen? Den §15, Abs. 2 gibt es ja nicht mehr…
Hallo Lars, das ist eine gute Frage! 🙂 Habe ich noch nicht geprüft. Schau doch mal selbst in die Verordnung.
Grüß Dich Stefan,
ich tüftle zurzeit an meinem Projektantrag, bin im dritten LJ und gehöre somit zum „alten“ Jahrgang. Laut Lehrer sollen wir uns an die alte Verordnung orientieren. Daher habe ich erwägt, ein Projekt dieser Art wie im Artikel steht einzureichen.
Dabei geht es um die Konzipierung eines vermarktbaren Wissensmanagement-Tools mit Fokus auf durchdachte Nutzerverwaltung. Da gehört vieles zu, bspw. Marktforschung, Mitarbeiterumfrage, Anforderungserhebung, Erstellung der Testfälle mit Xray, Entwurf der kompletten Oberfläche, UI/UX-Studie, Planung der Architektur, ein paar Diagramme usw. Auf 70h bin ich bei der Aufgabenauflistung schon gekommen (ohne bei den einzelnen Aufgaben 7h zu überschreiten, an der Stelle riesen Dank für Deine Empfehlungen!).
Jedoch habe ich ein schlechtes Gefühl, dass das technisch nicht genug sein könnte. Daher überlege ich gerade neben dem Pflichtenheft und der ganzen Planung mit unserem internen Framework vielleicht auch das Frontend aufzusetzen. Dafür werde ich aber Einiges aus der jetzigen Liste streichen müssen, ansonsten überschreite ich stark die Zeit.
Würdest Du sagen, es ist besser, wenn man neben dem Pflichtenheft auch etwas technisches macht (in dem Falle Frontend) oder soll ich mich lieber auf die Planung konzentrieren?
PS An der Stelle vllt ganz wichtig: mein Chef&Ausbilder hat die Logik-Umsetzung auf einen Personenjahr geschätzt. Das Team, das das Ganze entwicklen wird, steht schon fest, daher kommt dies für mich nicht infrage. Sie brauchen eher den Planung- und Design-Teil erledigt.
Mit freundlichen Grüßen aus Oldenburg
Julia
Hallo Julia, ich persönlich habe noch nie (!) ein Projekt gesehen, das keine Praxis enthielt. Das „reine“ Pflichtenheft ist zwar laut Prüfungsordnung erlaubt, aber in der Praxis wird das kaum genutzt. Ich habe auch keine guten Beispiele für solch ein Abschlussprojekt. Das muss nicht heißen, dass du das nicht machen kannst, aber ich kann dir wenig Hilfestellung dazu geben.
Und irgendwie glaube ich auch, dass man als Abschlussprojekt auch etwas Praktisches machen sollte und nicht nur ein Pflichtenheft erstellt. Aber das ist meine persönliche Meinung!