Über die Agile Ausbildung bei DATEV in Nürnberg spreche ich mit Uwe Ritthammer in der einhundertdreiundfünfzigsten Episode des IT-Berufe-Podcasts.
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Inhalt
Allgemeines zur Person
- Wie ist dein Name und wo arbeitest du?
- Ich bin Uwe Ritthammer und ich komme aus dem schönen Nürnberg in Franken (nicht Bayern! ;-))
- Ich arbeite bei DATEV. Wir entwickeln u.a. Software für Steuerberater. Wir haben ca. 8.000 Mitarbeiter, darunter 200 Azubis und Duale Studierende.
- In meiner Abteilung sind wir mit insg. 8 Personen für die Ausbildung zuständig. Wir übernehmen das volle Programm inkl. Marketing, Recruiting, Betreuung und Übernahme.
- Der IT-Bereich überwiegt bei uns. Ca. 65% der Azubis arbeiten in der IT, der Rest ist kaufmännisch unterwegs, aber es gibt u.a. auch Dialogmarketing.
- An welchen Projekten arbeitest du zur Zeit in deinem Tagesjob?
- Ich arbeite operativ mit den Azubis. Ich bin seit 2018 Ausbildungleiter und habe seitdem leider etwas weniger Zeit für aktive Zusammenarbeit.
- Wie bist du zur Informatik bzw. Softwareentwicklung gekommen?
- Ich habe schon als Kind gerne Computerspiele gespielt. Ich bin über Atari 2600, C64 und Amiga 500 zur Programmiersprache BASIC gekommen. Außerdem habe ich Assembler und C programmiert.
- Dann habe ich eine Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann gemacht und nachher noch studiert.
- Zur Ausbildung bin ich über meine Berufspraxis gekommen. Dort habe ich lange Zeit IT-Schulungen durchgeführt.
- Welche Ausbildung bzw. welches Studium hast du im Bereich der Informatik absolviert?
- Ich habe klassisch Informatik studiert mit Schwerpunkt Wirtschaft.
- Mit welchen Programmiersprachen arbeitest du im Alltag?
- Wir entwickeln klassischerweise Windows-Anwendungen, daher hauptsächlich C#. Aber das wird weniger und wandert ins Web. Dort bin ich mit Java unterwegs. Auch die üblichen Frameworks wie Bootstrap zusammen mit JavaScript setze ich ein. Ich habe aber auch mal COBOL auf dem guten alten Mainframe entwickelt.
- Was ist deine Lieblingsprogrammiersprache und warum?
- C! Privat nutze ich gerne Linux und hacken geht mit C dort sehr gut. Dafür nehme ich sogar die möglichen Speicherlecks in Kauf.
Agile Ausbildung
- Wie ist die Idee zur agilen Ausbildung entstanden?
- Wir haben das agile Manifest auf die Ausbildung übertragen. Dessen Werte fanden wir sehr passend: Individuen über Prozesse, funktionierende Software über Dokumentation, Zusammenarbeit über Vertragsverhandlungen, Reaktion auf Veränderungen über Verfolgen eines Plans.
- Der Ausbildungsrahmenplan der IHK steht dem nur scheinbar genau gegenüber. Die Berufsbilder sind seit 1997 recht technologieunabhängig formuliert. Der Rahmen wurde zwar vorgegeben, kann aber gedehnt werden. Auch nach 20 Jahren sind die Inhalte noch aktuell.
- Dieser Rahmen ist daher gar nicht so starr wie er scheint. Wir können uns frei bewegen innerhalb der Grenzen.
- Es gibt dafür sogar einen eigenen Paragraphen: man kann vom Rahmen abweichen, wenn dies notwendig oder sinnvoll ist. Das Berufsbild gibt nur die Mindestanforderungen vor.
- Wie funktioniert die agile Ausbildung genau?
- Das ist an der Organisation der Ausbildung ersichtlich. Es gibt keinen festen Durchlaufplan mehr (z.B. 5 Wochen Buchhaltung usw.), sondern die Azubis lernen agiler. Der Durchlaufplan wird nun für jeden Azubi individuell festgelegt und der Plan wird iterativ angepasst.
- Wir hatten z.B. einen Azubis, der die kaufmännischen Inhalte zunächst als störend empfand und der einfach hacken wollte. Darauf konnten wir flexibel reagieren.
- Das Ganze haben wir aufgezogen wie ein agiles Projekt. Zunächst haben wir evaluiert, wer unsere Stakeholder sind.
- IHK -> Gibt das Berufsbild vor.
- Azubis -> Wollen eine gute Ausbildung bekommen und viel lernen.
- DATEV -> „Kunde“ der zukünftigen Mitarbeiter.
- Wie genau sieht die agile Ausbildung denn nun aus?
- Wir sind angefangen mit den Schulungen für die IT-Azubis. Aktuell benötigte Anforderungen des Unternehmens wurden über die Schulen nicht abgedeckt. Dort wird immer noch das gleiche gelehrt wie vor 20 Jahren. Und Microsoft Office hat einfach nichts mit Informatik zu tun!
- Daher hat DATEV einen hohen Initialaufwand, um junge Leute auf ein Level zu heben, das für die aktive Mitarbeit im Projekt reicht. Daher haben wir schon immer viel Schulungsaufwand gehabt.
- Aber 2 Wochen C++ am Stück sind z.B. zu viel für viele Azubis. Daher haben wir die Schulungen „agilisiert“ und leichter verdaulich gemacht.
- Der Kern der agilen Ausbildung sind Zwei-Tagesmodule, die aufeinander aufbauen. Sie haben ein einheitliches Muster. Die Schulungsinhalte stehen z.B. im „Backlog“. Ein Daily Standup gehört direkt dazu. Beim ersten Treffen wird u.a. das Vorwissen der Teilnehmer abgeklärt/abgeglichen.
- Die Schulungen starten zu Beginn oft mit einem Rechercheauftrag. Kleine Teams (meist 2 Leute) bleiben zusammen, z.B. für diese Recherche oder ein Pair Programming.
- Dann gibt es eine Mini-Projektaufgabe zum Umsetzen, oft z.B. Spiele für Algorithmen. Kniffel bietet sich dabei an („kleine Straße“ erkennen usw.). Das Spiel wird auch wirklich einmal gespielt, um dann User Stories daraus abzuleiten. Wie in einem echten Projekt!
- Dann kommt die Umsetzung am Computer und eine Retrospektive am Ende jedes Bausteins. Dort klären wir u.a. was wir (Dozenten und Azubis) besser machen könnten?
- Was ist denn euer „Einstiegsbaustein“ zu Beginn der Ausbildung?
- Es gibt einen „Selbsttest“, um den individuellen Stand der Azubis zu erfassen, z.B. in den Bereichen Coding, Java, Struktogramme verstehen, Reihenfolge von Algorithmen.
- Am Ende gibt es dann Feedback: Wo stehen die Teilnehmer? Dann werden homogene Gruppen gebildet, die in einem gleichen Lerntempo arbeiten können. Heterogene Teams funktionieren nicht so gut, weil Fortgeschrittene Fehler der Schlechten einfach korrigieren.
- „Logik der Programmierung“ ist dann der der erste „echte“ Baustein. Er ist ein Pflichtteil oder optional, je nach Azubi und dessen Kenntnisstand.
- Die Bausteine bauen alle aufeinander auf. Im Standup wird immer der letzte Baustein reflektiert.
- Es geht weiter mit Datentypen, Algorithmen, Objektorientierung, Vererbung usw. (insg. 6 Monate).
- Wie gut funktioniert dieses Vorgehen?
- Wir fragen uns oft, ob wir noch Zeit sparen können oder ob es nicht schneller oder mit weniger Aufwand gehen könnte.
- Die Azubis legen ein hohes Tempo vor nach der Anpassung an Scrum. Sie gewinnen an Selbstständigkeit. Gerade bei abstrakten Themen wie Vererbung sind die Schulungen fast ein Selbstläufer.
- Die Azubis lernen das Lernen. Im letzten Block halten sie die Scrum-Meetings schon selbst. Sie verinnerlichen die Scrum-Methodik einfach.
- Anhand der Retrospektive (1h Feedback am zweiten Tag) sieht man die Verbesserung der Azubis. Aus „Der Kaffee war gut“ und „Die Logik war mir zu technisch“ werden über die Zeit deutlich sinnvollere Kommentare und echte Anregungen und Bewertungen.
- Die Azubis sind sehr „getriggert“ durch die Schule. Eine Aufgabe gemeinsam zu lösen und auch die eigene Selbstständigkeit müssen erst trainiert werden.
- Es werden auch komplett andere Inhalte und fachliches Feedback von den Azubis eingebracht, z.B. SQL Island oder mehr eigene Präsentationen.
- Wird das Feedback direkt in die nächsten Bausteine eingebaut?
- Wir haben meist mehr als drei Azubis in einer Gruppe, oft ca. 10 Leute.
- Ein Baustein wird 3x mit unterschiedlichen Gruppen gemacht, also können wir sogar direkt das Feedback für die nächste Gruppe einfließen lassen.
- Die Azubis bekommen mit, dass die Dozenten wirklich Feedback wollen und sich verbessern möchten und liefern dann auch konstruktives Feedback.
- Läuft die agile Ausbildung für alle IT-Berufe gleich ab?
- Erstmal ja, aber nur bis zu einem gewissem Grad.
- Die Kernqualifikationen der IT-Berufe sind ja überall gleich.
- Später werden die Berufe dann getrennt nach ihren Schwerpunkten, z.B. gibt es kein UI-Design für FISIs.
- Wie sieht das Vorgehen bezogen auf ein konkretes Beispiel aus (z.B. „Einführung in relationale Datenbanken“)?
- Solche Themen werden als einzelne Bausteine geplant und durchgeführt.
- Welche konkreten Methoden (z.B. Daily Scrum, Kanban Board) werden eingesetzt und warum?
- Wir haben ein Kanban-Board mit Karten der Lernthemen.
- Wie und wann wird das Erreichen der Lernziele kontrolliert?
- Es gibt permanentes Feedback während des Bausteins, z.B. live im Code. Außerdem gibt es Fragen während des Codings.
- Am Ende einiger Bausteine gibt es auch Feedback der Dozenten für einzelne Azubis.
- Wir führen keine schriftlichen Tests durch, da man die ja auch korrigieren müsste.
- Die IHK-Prüfungsergebnisse geben unserem Vorgehen recht. Unsere Azubis schneiden fast immer überdurchschnittlich ab.
- Auch später im Fachbereich gibt es eine offene Feedback-Kultur.
- IHK-Aufgaben werden einfach in die Bausteine integriert.
- An welchem Prozess orientiert sich die agile Ausbildung grundsätzlich (z.B. Scrum)?
- Ja, an Scrum, da es auch bei DATEV im Fachbereich etabliert ist.
- Das Mindset passt auch einfach gut zur Ausbildung.
- Wir haben uns auch EDUScrum angeschaut, das Scrum in die Schulen bringt inkl. Artefakte usw.
- Nehmen die Azubis während der Ausbildung besondere Rollen (z.B. Product Owner) ein?
- Der Dozent ist Product Owner der Ausbildung. Er priorisiert die Lerninhalte für DATEV.
- In späteren Bausteinen werden die Rollen von den Azubis eingenommen, zu Beginn ist der Dozent Scrum Master und Product Owner zusammen.
- Das Ganze gipfelt in einer Projektwoche, in der die Rollen durchgespielt werden. Da gibt es einen Wettbewerb gegen andere Gruppen. Es wird ein „echtes“ Projekt umgesetzt.
- Woher wissen die Azubis, was sie wann lernen müssen/sollten?
- Der Ablaufplan wird von DATEV vorgegeben.
- Wie und wie oft erfolgt eine Betreuung durch die Ausbilder?
- Es gibt zwei Tage Schulung und dann drei Tage Fachbereich schon während der Einführung (6 Monate).
- Während der Schulung betreut der Dozent die Azubis als Coach.
- Es werden verschiedene Rollen eingenommen. Es gibt einen Mix aus Schulung und Eigenarbeit, je nachdem was der Einzelne gerade braucht.
- Funktioniert der Ansatz bei allen Azubis oder gibt es auch Azubis, die „klassisch“ ausgebildet werden?
- Bislang hat es immer agil geklappt. Manchmal dauert es aber länger. FIAEs sollten das aber können, sonst ist es der falsche Beruf.
- Welche Ressourcen werden den Azubis für das selbstständige Lernen bereitgestellt?
- Das Internet, die App Human Resouce Machine (EVA-Prinzip), viele kostenlose Inhalte, ggfs. auch kostenpflichtige Inhalte.
- Project Euler verfolgt z.B. den Gamification-Ansatz.
- Letztlich ist das alles aber individuell je nach Azubi.
- Welche Medien werden in der Ausbildung eingesetzt (z.B. Bücher, Podcasts, Videos, Präsenzveranstaltungen)?
- Für jeden Baustein gibt es eine Lernzielplanung: Wie misst man den Erfolg? Was soll man lernen? Und auch: Welche Medien werden eingesetzt?
- Das ganze ist stundenweise gegliedert, u.a. nach Erfahrung, z.B. ERM dauert 3h.
- Der Dozent macht sich Gedanken, wie man die Inhalte gut vermitteln kann. Spontan genutzte Medien werden auch gesammelt für das nächste Mal.
- Die Azubis haben auch schonmal eigene Lernvideos gedreht, aber die Outtakes waren das Beste daran.
- Auch wenn man sagt „teaching is learning twice“, verwenden wir hauptsächlich Inhalte, die es schon gibt, und erstellen weniger eigene Inhalte.
- Wird der gesamte Ausbildungsrahmenplan in-house abgedeckt?
- Die Mindestinhalte müssen halt einfach vermittelt werden, egal ob klassisch oder agil.
- Das Berichtsheft hilft an der Stelle, um zumindest einen Eindruck zu bekommen, wem noch was fehlt.
- Falls etwas fehlt, sollte das eigentlich im regelmäßigen Feedback auffallen. Und DATEV ist so groß, dass wir die Vermittlung dann schon organisiert bekommen.
- Wie werden die IHK-Abschlussprojekte eingebunden?
- Die Azubis sind zu dem Zeitpunkt schon im Fachbereich unterwegs und machen normal ihre Projekte.
- Azubis präsentieren die Ergebnisse auch untereinander und geben sich Feedback. Das läuft dann immer noch recht „agil“, aber nicht mehr als Teil der agilen Ausbildung.
- Wie fängt man an, wenn man seine Ausbildung agil(er) gestalten will?
- Unser erster Baustein war zum Thema Datenbanken. Der Inhalt war bereits da, er war nur ohne Scrum geplant. Darauf haben wir aufgesetzt.
- Mein Kollege war Scrum Master und wir haben zusammen die Bausteine „agilisiert“. Dazu haben wir uns im Kreativraum eingeschlossen und nach einem Tag hatten wir ein Grobkonzept. Danach haben wir dann ca. 1 Jahr nebenbei daran gearbeitet und auch mit Azubis zusammen.
- Inzwischen sind alle IT-Schulungen auf agil umgestellt. Jetzt kommen die anderen Berufe dran!
Aus- und Weiterbildung
- Was ist dein absolutes Lieblingsbuch mit Bezug zur IT/Programmierung und warum?
- Head First Design Patterns*: Ein richtiges „Mitmachbuch“! Man lernt spielerisch abstrakte Themen und es werden verschiedene Lerntypen angesprochen.
Abschluss
- Wo können die Hörer mehr über dich erfahren bzw. dich kontaktieren?
- Ihr könnt euch gerne direkt an Uwe Ritthammer wenden, z.B. per E-Mail. Auf der DATEV-Website sollte die zu finden sein.
- In den sozialen Medien ist Uwe nicht vertreten (das stielt ihm einfach zuviel Zeit).
- Schlusswort
- Unternehmen mit Interesse an der agilen Ausbildung sollten nicht einfach die beschriebene Methode kopieren! Ihr Erfolg hängt stark von den beteiligten Personen ab und muss dem Dozenten liegen, aber auch zum Unternehmen passen!
- Viel besser wäre es, sich selbst Gedanken zu machen und eine passende Methodik zu entwickeln. Ganz im Sinne der agilen Entwicklung!
Literaturempfehlungen
Eines von Uwes Lieblingsbüchern ist Head First Design Patterns*. Das Buch habe ich selbst auch schon gelesen (oder besser verschlungen) und kann es ebenfalls uneingeschränkt weiterempfehlen. Gut verdaulich und praxis- bzw. teilweise sogar prüfungsrelevant.
Links
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- RSS-Feed des Podcasts
- DATEV, die „Erfinder“ der agilen Ausbildung.
- Ausbildung bei DATEV
- Podcast „Stay Forever“, der sich mit der Glorie alter Computer- und Videospiele beschäftigt.
- eduScrum Start versucht Scrum in die Schulen zu bringen.
- SQL Island, ein Adventure, das man mittels SQL bestreitet.
- Human Resource Machine, ein Spiel zum Einstieg in das EVA-Prinzip.
- Project Euler, eine Website mit Logik- und Matherätseln zum Programmieren.
- Agiles Manifest, das die Grundlagen der agilen Softwareentwicklung beschreibt.
Auf der Webseite von DATEV habe ich leider keine Kontaktinformationen zu deinem Gesprächspartner gefunden. Vielleicht könntest du die noch nachliefern.
Ansonsten danke für den interessanten Einblick.
Hallo Marco, versuch es doch mal bei Twitter: Uwe Ritthammer
Da hatte ich gar nicht gesucht, nachdem er von seiner SocialMedia-Abstinenz sprach. Aber danke für den Tipp. 🙂